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Zum Museum erklärt oder die Magie des Alltäglichen

Je mehr künftige Ausstellungsstücke ich erwarb, umso mehr entwickelte sich auch die Geschichte in meinem Kopf. Manchmal fand ich bei Bekannten oder in einem der Schränke, in denen meine Mutter allerlei Geschirr hortete, etwa eine Tasse und nahm sie an mich, ohne jemandem zu sagen, wofür sie gedacht war.1
(Orhan Pamuk)

In Verbindung mit seinem Liebesroman Das Museum der Unschuld2 schuf der türkische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk in seinem 1999 erworbenen Haus im Istanbuler Altstadtviertel Çukurcuma ein gleichnamiges Museum, in dem Objekte der Alltagskultur eine prominente Rolle spielen: „Taschentücher, Streichholzschachteln, leere Flakons, ein Schuh, Gläser, Rakiflaschen, ein Vogelkäfig, eine Wanduhr ... Alltagsgegenstände, Nippes, Banales“.3 Über Jahre hinweg hat Pamuk all das gezielt gesucht, gefunden, gesammelt und in Schaukästen arrangiert. Vieles fand er auf seinen Spaziergängen durch die Stadt, während er die Geschichte seines Romans oder eines ganz bestimmten Kapitels vor Augen hatte. „Durch alte Postkarten und schrille Filmplakate und in hunderten von hinreißenden Fotografien und skurrilen Gegenständen entsteht das geliebte Istanbul seiner Jugend, das in der Metropole von heute aufgegangen ist. Nichts ist dem obsessiven Sammler Pamuk zu klein oder zu unbedeutend, dass er es nicht als Beleg und als Andenken aufgehoben hätte.“4
Orhan Pamuks Museum ist „ein Museum, wie es keines vorher gegeben hat“.5 Sein Entstehen entspringt nicht einem Konzept der Speicherung und Vermittlung von Wissensbeständen, wie wir das etwa von Naturkundemuseen kennen, mit einer darin eingebetteten Klassifizierung der Arten, einem Ordnungssystem mit wissenschaftlichem, aufklärerischem Impetus. Es gründet nicht auf dem „(preußischen) Ideal des Kunstmuseums in der Erhöhung des Menschen, seiner umfassenden Bildung und geistigen Vervollkommnung“.6 Und es lässt sich auch nicht in die Nähe von Kunst- und Wunderkammern rücken, „in de[nen] nicht erklärliche oder zumindest nicht auf den ersten Blick entzifferbare, vor allem aber nicht alltägliche Objekte gesammelt und präsentiert wurden, deren Aufgabe es war, Neugier und Staunen auszulösen“.7 In Pamuks Museum finden sich vielmehr „Dinge, wie sie Menschen beim Entrümpeln ihres Kellers wegwerfen oder bestenfalls zum Flohmarkt bringen“.8

Dieses Museum ist ein begehbarer Roman, eine sich aus der Schrift materialisierte Geschichte von Geschichten, in die sich die Erinnerungen des Autors an eine vergangene Zeit eingewoben haben. In der „Handgreiflichkeit des Dinghaften“9 scheinen sie wieder auf. Ohne „die Verdinglichung, die aus der Erinnerung selbst entspringt, weil die Erinnerung der Verdinglichung für ihr eigenes Erinnern bedarf, würde das lebendig Gehandelte, das gesprochene Wort, der gedachte Gedanken spurlos verschwinden“.10
Im Museum der Unschuld haben die Dinge keine praktische Inzidenz mehr. Ihnen wurde eine neue Bedeutung zugeschrieben, und dadurch haben sie aufgehört, Teppiche, Fächer, Globen oder Fotoapparate zu sein, sind nunmehr „Objekte“11, sind „zweigesichtige Gegenstände“, die Sichtbares und Unsichtbares vermitteln.12
Roman und Museum sind, so Pamuk, von ihm zeitgleich geplant worden, aus Fragmenten der Wirklichkeit, der Fantasie und aus der Empfindung heraus, wie es sein musste, „wenn jemand wie [...] ein Romanheld [...] in einem Museum zugleich Führer und Ausstellungsstück ist, oder wenn ein Mensch nach vielen Jahren in einem Museum anhand von Gegenständen erläutert, wie er einst gelebt hat“.13 Damit werden das Schreiben eines Romans und das Sammeln von Dingen für ein Museum zu zwei untrennbar miteinander verbundenen Handlungssträngen. Und vielleicht verrät damit, ganz nebenbei, das Motiv des Sammelns zugleich etwas über das eigentliche Motiv des Schreibens ganz allgemein, denn, so Walter Benjamin in seinen Überlegungen zum Sammler im Passagen-Werk, „vielleicht läßt sich das verborgenste Motiv des Sammelnden so umschreiben: er nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf. Der große Sammler wird ganz ursprünglich von der Verworrenheit, von der Zerstreutheit angerührt, in der die Dinge sich in der Welt vorfinden. Das gleiche Schauspiel ist es gewesen, das die Menschen des Barockzeitalters so sehr beschäftigt hat; insbesondere ist das Weltbild des Allegorikers ohne das leidenschaftliche Betroffensein durch dieses Schauspiel nicht zu erklären.“14
Ob nun von der Zerstreutheit der Dinge in der Welt angerührt oder nicht – fest steht, dass das Museum der Unschuld das Ergebnis der Obsession eines einzelnen Menschen ist. Wie das Museo Shangri-la, das Museum hinter der Brücke von Pietro Benzi, ungefähr drei Flugstunden oder 23 Autostunden von Istanbul entfernt. .
„Ich habe Stück für Stück alles gesammelt, was die Leute wegwerfen wollten, weil es zu alt oder aus der Mode gekommen war,“ bekennt Benzi in einem Interview. Derart entstand seine Sammlung von Überresten, die auf den umliegenden Höfen nicht mehr gebraucht oder gewollt wurden und auf den Müllkippen landen sollten, mit voller Absicht, sind auch die Arrangements der Dinge, der Schuhe, Gläser, Bilder, Werkzeuge, Töpfe, Fahrräder, Vogelkäfige, Koffer, Körbe und mehr alles andere als beliebig oder dem Zufall geschuldet, sondern von Benzi ganz bewusst zusammengestellt.
Das Museo Shangri-la lässt sich ebenso wenig losgelöst von der dahinter stehenden Sammlerpersönlichkeit denken wie das Museum der Unschuld. Anders als Sammlern, die auf die Vollständigkeit einer Sammlung setzen und vom Jagdfieber auf Einmaliges getrieben sind, geht es Pamuk und Benzi nicht um „Unerreichbares oder Unmögliches oder ganz einfach das Zu-spät-Kommen, das bestraft wird“.15 Vielmehr handelt es sich bei den beiden um den Typ Sammler, der – und hier ließe sich erneut Walter Benjamin zitieren –„ein Verhältnis zu den Dingen hat, das in ihnen nicht den Funktionswert, also den Nutzen sieht, ihre Brauchbarkeit in den Vordergrund rückt, sondern sie als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals studiert und liebt. Es ist die tiefste Bezauberung des Sammlers, das einzelne in einen Bannkreis einzuschließen, in dem es [...] erstarrt. Alles Erinnerte, Gedachte, Bewusste wird Sockel, Rahmen, Postament, Verschluß seines Besitztums. Zeitalter, Landschaft, Handwerk, Besitzer, von denen es stammt – sie alle rücken für den wahren Sammler in jedem seiner Besitztümer zu einer magischen Enzyklopädie zusammen, deren Inbegriff das Schicksal seines Gegenstandes ist.“16
Beiden Konzepten – dem Museo Shangi-Ia wie dem Museum der Unschuld – mangelt es nicht an „Ding-Kombinatorik, der ungewohnten, kühnen, inspirierten und verstörenden Anordnung von Gegenständen“,17 die das Museum als Institution erst ermöglicht. Die Art der Aufbewahrung, die fehlende Konservierung und Restaurierung, der aus verschiedenen Gründen gar in Kauf genommene Zerfall von Hallen, Schuppen und Stellagen und mithin das Grün, welches das Museo Shangri-la überwuchert, lassen aber eher an die Ruine eines Museums denken – eine Vorstellung, die auf jene Museen des 19. Jahrhunderts projiziert wurde, die danach strebten, „ dem Vergänglichen einen Hauch von Zeitlosigkeit zu verleihen. [...] Die unerfreuliche Überraschung, die diese Sorte von Museen erwartet, ist, daß auch sie über kurz oder lang dem Verfall geweiht sind. Auch ihre Zeit ist begrenzt. [...] Wir wissen nicht, wann und wie dies geschehen wird, aber die Vorstellung eines einst großen Museums, das mit seinen Ausstellungen, Inventaren und Vitrinen dem äußeren und inneren Verfall anheimfällt und von Gras überwachsen wird, ist nicht bloß ein Hirngespinst.“18
Trotz zweier großer Kriege im Europa des 20. Jahrhunderts ist es dazu nicht gekommen – aus den Museen des 19. Jahrhunderts wurden zumindest bislang keine Ruinen. Was aber, ließe sich im Angesicht von Shangri-la fragen, unterscheidet einen Sammler alltäglicher Dinge wie Büchern, Schallplatten, Bügeleisen, alten Radios, kaputten Uhren, Schuhen und Kaffeemühlen von Leuten, die nichts wegwerfen können, weder abgetragene Kleider noch Flaschen, Knöpfe oder gar allerlei Unappetitliches? Erfüllen sich mit dem Museum hinter der Brücke etwa „[d]ie Experimente der ‚Modernen’, [...] [die abzielten] auf die Verschmelzung des Museums mit der Gesellschaft, indem entweder jeder Gegenstand als museal oder aber das ‚Ganze’ zum Museum erklärt werden konnte“?19 Befinden wir uns vielleicht schon alle, ohne es zu sehen, unter jenem Firmament, das der preußische Kulturbeamte Wilhelm Waetzholdt 1930 für eine Zeit kommen sah, in der „man ein Glasdach über die Erde spannt und so endgültig das Universalmuseum schafft“?20
Ein Museum in dem „man die unendliche Welt der Gegenstände genau so in Familien und Klassen einzuteilen [vermag] wie das Pflanzen- und Tierreich mit seinen tropischen und glazialen Gattungen, mit seinen erstaunlichen Mutationen und aussterbenden Arten? In der städtischen Zivilisation sieht man, wie Generationen von Gegenständen, Apparate und Gadgets („Mitbringsel“ technisch-praktischer Art) einander in immer schnellerem Tempo ablösen, angesichts dessen sich der Mensch als eine besondere stabile Form bewährt. Diese Vielfalt der Gegenstände ist im Grunde genommen nicht merkwürdiger als die große Mannigfaltigkeit der natürlichen Arten.“2

Wir können heute zurückblicken auf die unterschiedlichsten Konzeptionen von Museen, wissend, „dass 95 Prozent aller Museen weltweit nach dem zweiten Weltkrieg gegründet worden sind“22
Museen sind mehr und mehr der „Ort, an dem Wissen nicht nur mithilfe von Sprache und der Aktivierung entsprechender Verstandeskräfte vermittelt wird, sondern an dem sinnliche Erkenntnisweisen eine Rolle spielen, die nicht ohne Weiteres zu kalkulieren sind.“ 3Aus der Fülle und Vielfalt der Museumskonzepte hat sich für den Moment eine allgemeine Definition herausdestilliert, die das Museum charakterisiert als „eine gemeinnützige, ständige, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung im Dienste der Gesellschaft und ihrer Entwicklung, die zu Studien-, Bildungs- und Unterhaltungszwecken materielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschafft, bewahrt, erforscht, bekannt macht und ausstellt.“24
So gesehen – und mit Blick auf die fotografischen Zeugnisse der von Pietro Benzi zum Museum erklärten Ansammlung von Alltagsdingen jeglicher Art – konnte der Anfang Januar 2014 verstorbene Sammler „Museum“ gar nicht schöner und hingebungsvoller missverstehen.

1 Orhan Pamuk, Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul, aus dem Türkischen von Gerhard Meier, München, 2012, S. 21.
2 Als „bewegt“ und immer wieder „unnennbar ergriffen“ beschreibt Rezensent Walter van Rossum seine Reaktion auf die Welt von Orhan Pamuks neuem Roman, der aus seiner Sicht eine „große Liebesgeschichte“ sowie ein „wunderbarer Beleg“ dafür ist, wie man mit den Mitteln des Romans der Welt „ihren Reichtum, ihre Komplexität und ihre schwierige Schönheit“ zurückgeben kann, ohne in die dümmlichen ideologischen Raster gegenwärtiger Realitätsbewältigung zu verfallen. Glutkern des Romans sei seine Bewusstmachung der „Vergesellschaftung“ der Gefühle bis in ihre intimsten Regungen hinein, was Pamuk an der Geschichte eines unglücklichen Dreiecksverhältnisses verhandele, eines Mannes, der zwei Frauen liebt. Auch das titelgebende wie symbolische Museum der Unschuld, das der Protagonist für seine Liebe errichtet und mit Gegenständen bestückt, findet der Rezensent als Romanmotiv wie als darüber hinaus gehendes Bild für Istanbul und den Tumult der Gefühle seiner Bürger zwischen Tradition und Moderne geradezu kongenial.“ Vgl. www.perlentaucher.de/buch/orhan-pamuk/das-museum-der-unschuld.html (Zugriff: 31.1.2015)
3 www.kleinezeitung.at/s/kultur/3960275/Orhan-Pamuk-oder-Die-Magie-des-Alltaeglichen (Zugriff: 31.1.2015).
4 Rückseitiger Text von: Pamuk, Die Unschuld (wie Anm. 1), München, 2012.
5 Ebd.
6 Anke te Heesen, Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg 2012, S. 15f.
7 Ebd., S. 35.
8 Vgl. www.kleinezeitung.at/s/kultur/3960275/Orhan-Pamuk-oder-Die-Magie-des-Alltaeglichen (Zugriff: 31.1.2015).
9 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, S. 87.
10 Ebd.
11 Jean Baudrillard, Das System der Dinge: über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, aus dem Französischen von Joseph Garzuly, mit einem Nachwort von Florian Rötzer, Frankfurt am Main / New York 1991, S. 111.
12 Es ist der französisch-polnische Historiker Krzysztof Pomian, der auf eben diese Zweigesichtigkeit von Gegenständen verweist und damit seine Theorie vom Museum als einem symbolischen Raum begründet, in dem alle Objekte automatisch zu Zeichenträgern (Semiophoren) für eine ihnen entzogene, andere Vergangenheit werden (Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988); vgl. auch: Gottfried Korff, Paradigmenwechsel im Museum? Überlegungen aus Anlass des 20jährigen Bestehens des Werkbund-Archivs, Martin-Gropius-Bau, 27. Mai 1993, Berlin
13 Pamuk, Die Unschuld (wie Anm. 1), S. 11.
14 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main, 1983, S. 279f.
15 Adrian Koerfer, Hättest Du geschwiegen ..., in: Horizonte des Sammelns, Wolfsberg, Schweiz, S. 26.
16 Walter Benjamin, Denkbilder, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Band IV.1., hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt am Main 1991, S. 389.
17 Korff, Paradigmenwechsel (wie Anm. 12)
18 William M. Johnston, Europas Museen re-imaginiert: Variationen über ein Thema André Malraux’s, in: Peter Noever, Tradition und Experiment. Das österreichische Museum für angewandte Kunst, Wien 1988, S. 260.
19 Olaf Hartung, Kleine Deutsche Museumsgeschichte. Von der Aufklärung bis zum frühen 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien2010, S. 110.
20 Wilhelm Waetzoldt, Wandlungen der Museumsidee, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 219, Berlin 1930, S. 235.
2 Jean Baudrillard, Das System der Dinge: über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, aus dem Französischen von Joseph Garzuly, mit einem Nachwort von Florian Rötzer, Frankfurt/Main/New York, 1991, S. 9.
22 Daniel Tyrandellis, Müde Museen oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern könnten, Hamburg 2014, S. 15.
23 Anke te Heesen, Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg 2012, S. 10.
24 www.museumsbund.de/de/das_museum/geschichte_definition/definition_museum/ (Zugriff: 31.1.2015).


Unsicheres Terrain

Symbole repräsentieren etwas, dass sie selbst nicht sind. Sie verweisen auf Abwesendes und bilden Zeichensysteme, anhand derer das Hier und Heute zu einer kommunizierbaren Wirklichkeit wird. Zu der Welt der Symbole gehören auch jene Zeichen, mit denen Unternehmen in Form von Buchstaben oder einer Kombination aus Schrift und Bildelement für sich werben. Als leuchtende Signets bestimmen diese in hohem Maße das nächtliche Erscheinungsbild unserer Städte.

Mit seiner Intervention „Unsicheres Terrain“ eröffnet der in Berlin lebende Künstler Knut Eckstein (*1968) die vierteilige Installationsreihe „Mehr Licht“ des Goethe-Instituts in der Ráday utca 58, die von 2012 bis ins Jahr 2014 Lichtinstallationen von KünstlerInnen aus Ungarn und Deutschland an der Fassade des Gebäudes präsentiert.
„Unsicheres Terrain“ ist ein Werk, das sich aus der Welt der Symbole, genauer aus der von Firmensignets speist. Doch was bei Unternehmen aus zumeist höchstwertigen Materialien und aufwändiger Technik produziert ist, entsteht bei Eckstein aus einfachsten Materialien, aus unterschiedlich farbigen Lichtschläuchen, sogenannten Cable-lights. Mit diesen zeichnete er bei seinem neuesten Kunstwerk das Signet des französischen, viertgrößten, Mineralölunternehmens der Welt nach. Angebracht an einem zuvor an der glänzenden, modernen Fassade verankerten fragilen Bambusgerüst, leuchtet signifikant und zugleich namensgebend für dieses global agierende Unternehmen neben einer dynamischen runden Bildmarke der Schriftzug TOTAL auf.
Die bewusst provisorische Ausführung der Installation, das an asiatische Baustellen erinnernde Bambusgerüst an der Fassade des Instituts, lässt dabei den Eindruck entstehen, dass das Gebäude selbst in einer Umbauphase ist. Ein Prozess scheint hier in Gang gesetzt zu sein, verweist auf zukünftige Veränderungen – auf totale?
Denn in der Tat lässt der Schriftzug TOTAL zahlreiche Assoziationen zu. Total kann alles einschließen und ebenso kann von einem ganzheitlichen Ausschluss die Rede sein. In jeden Fall aber lässt sich dieser Begriff mit einem Ganzheitsanspruch verbinden. Denn total meint alles. Ohne Ausnahme. Und ohne Umschweife. Eben total. Doch ist damit nicht geklärt, welche Intention dieser Begriff verfolgt, ob hier ein positiver oder negativer Ganzheitsanspruch zum Tragen kommt. Und was bedeutet dieser Begriff, diese Wortmarke, für eine Firma, die sich zu dem achtgrößten Unternehmen der Welt zählt? Was bedeutet diese Marke, dieses Wort für einen Franzosen, einen Deutschen oder Ungarn?
Mit diesen Fragestellungen berührt Knut Ecksteins Werk „Unsicheres Terrain“ einen Grundgedanken des Kunsthistorikers und Kulturwissenschaftlers Aby Warburg, das nämlich ein Kunstwerk nicht isoliert und rein ästhetisch zu betrachten ist, sondern im Zusammenhang mit seiner Zeit und sehr speziellen Traditionen in Schrift und Bild steht.

Mit der Ikonologie der an der Fassade des Goethe-instituts installierten Materialien und Zeichen verdeutlicht der Künstler den Bedeutungszusammenhang zwischen Erfahrung und Bewusstsein innerhalb unterschiedlicher kultureller Erfahrungsmomente, von lokalen oder nationalen Besonderheiten und global zirkulierenden Zeichen. Verschiebungen und Verdichtungen sind die Methoden, mit denen der Künstler agiert und mit denen er die Bedeutungen der uns umgebenden Zeichen auf humorvolle und kluge Weise hinterfragt. Er gehört damit zu jenen Künstlern, die nicht das Medium Licht selbst zum Gegenstand der Betrachtung machen, sondern es einsetzen als Bestandteil und Bedeutungsträger für komplexe Fragestellungen in Bezug auf die uns umgebenden, allgegenwärtigen Symbole, Zeichen, Phänomene und nicht zuletzt gesellschaftlichen Prozesse.

Matthias Wagner K

Weitermachen nach der Mode

„Wir haben schon genug Kleidung gemacht, dass sie bis in alle Ewigkeit ausreicht. Die einzige Rechtfertigung für das Weitermachen ist das Bedürfnis, schöpferisch zu arbeiten.“

(Guðmundur Hallgrímsson alias Mundi, isländischer Modemacher) 7. Juni 2011


Es war ein historisches Missverständnis, das zur Folge hatte, dass die zuvor weitestgehend unpopuläre Farbe Weiß in der Mode einen regelrechten Triumphzug feierte: 1738 bis 1765 förderten die Ausgrabungen der römischen Ruinen in Herculaneum bei Neapel eine große Anzahl von Statuen aus weißem Marmor zu Tage. Nicht ahnend, dass diese Statuen ehemals bemalt waren, imitierten Künstler, Architekten und Modeschöpfer das Weiß des Marmors. In Verbindung mit der Rousseau zugeschriebenen Forderung nach einem „Zurück zur Natur“ nahm diese Hinwendung zur römischen und griechischen Antike eine bedeutende Rolle im Wertesystem der Mode ein und führte zur Entfaltung des klassizistischen Stils. Mit der Hinwendung zur Antike, der Sehnsucht nach fremden Welten und einem einfachen Leben, die durch die Reiseberichte von Bougainville, Cook und Baudin noch geschürt wurden, verflocht sich die Farbe Weiß mit Begriffen wie Jugend, Einfalt, Reinheit und Unschuld und wurde so auch als literarische Metapher in die Märchen-, Leidenschafts- und Leidensgeschichten eingewoben.

Zu einer weiteren Verbreitung der Farbe Weiß in der Kleiderordnung des Klassizismus führte der gesellschaftliche Umsturz durch die Französische Revolution 1789. Mit der Umwälzung der gesellschaftlichen Werte fand auch ein umfassender Wandel der Mode statt, in dessen Folge die Nachfrage nach Baumwollstoffen in Europa stieg, was wiederum der englischen Textilindustrie einen gewaltigen Auftrieb gab. Dank der Entwicklung neuer Spinntechniken konnten nun leichtere Stoffe von hellerem Weiß hergestellt werden und Baumwollgewebe entwickelten sich zum bevorzugten Material für die Kleider der nachrevolutionären Zeit. Junge Mädchen und Frauen trugen weiße, taillierte Kleider aus fließenden Stoffen. Weiße Negligés und Abendkleider folgten. Für Kinder kamen weiße Matrosenanzüge in Mode.

Nach dem Zusammenbruch der Achtundvierziger Revolution, als Frankreich sein Zweites Kaiserreich erlebte und auch in anderen Ländern Europas die Reaktion einsetzte, war von der schlichten Kleiderordnung nur noch wenig zu merken. In Frankreich, England und Österreich hatten junge Fürstinnen den Thron inne, die den Hof wieder stärker in den Blickpunkt der Mode rücken ließen. Mit der Geschichte der Couturiers, die mit der Eröffnung des ersten Modesalons durch den Engländer Charles Frederick Worth 1857 in Paris ihren Anfang nahm, griff die „haute couture“ die reaktionären Tendenzen dieser Epoche auf und widmete sich ganz der Eleganz und dem Luxus ihrer Auftraggeber. Zwar setzte die Haute Couture noch bis in die 1960er Jahre die Modetrends, doch die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft des Massenkonsums rückte unaufhaltsam näher. Das Prêt-à-porter kam auf, um die Bedürfnisse eines großen Marktes nach Qualitätsprodukten zu befriedigen.

Für die Beschreibung der Entwicklung der Mode in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die bereits um 1900 verfassten Thesen des Philosophen und Soziologen Georg Simmel eine ungebrochene Aktualität: „[Die Mode] ist nie, sondern wird immer.“#2 Das heißt, sie schafft und suspendiert sich ständig selbst. Darin liegt die Logik ihrer Zeitlichkeit und ihre enorme dynamische Wirkung begründet: „Daß in der gegenwärtigen Kultur die Mode ungeheuer überhand nimmt [...], ist nur die Verdichtung eines zeitpsychologischen Zuges.“#3 Und dieser Zug liegt gerade in der Veränderung des Zeitbewusstseins: „Unsere innere Rhythmik fordert immer kürzere Perioden im Wechsel von Eindrücken; oder, anders ausgedrückt: Der Akzent der Reize rückt in steigendem Maß von ihrem substantiellen Zentrum auf ihren Anfang und ihr Ende.“#4 Indem die Mode immer wieder mit der Vergangenheit brechen muss, gibt sie sich gleichzeitig präsentisch#5, tritt so auf, „als ob sie ewig leben wollte“#6.

Um die Jahrtausendwende richtete sich der rhethorische Code der Mode erneut auf die Farbe Weiß und die mit ihr verbundenen Attribute. Der Duft der Reinheit – Comme des Garçons Parfum White – wehte aus dem 20. Jahrhundert herüber und nahm einen Trend vorweg: Weiß als die Farbe des beginnenden Milleniums. Von den Accessoires von Chanel, Prada und Fendi bis hin zu den eigentlichen Bekleidungsstücken dominierte die Farbe Weiß. Weiß auch bei Dior, bei Givenchy, Lacroix und Valentino. Es wurde vom „romantischen Geist einer cleanen, verträumten Sommerfrische“#7 gesprochen und weiter „von weißen Ferienlooks“ sowie Badeanzügen und Bikinis, die „den Körper zur Lichtskulptur formen“#8. Die Modekonzepte des noch jungen Jahrtausends übertünchten mit einem „Schneeweiß“, „Engelsweiß“, „Papstweiß“, „Albinofalkenweiß“ und „Unschuldsweiß“#9 die bad news der Tageszeitungen und auch in der Brautmode wurde nicht etwa nur von einem weißen Kleid gesprochen, sondern vom „jungfräulichen Unschuldskleid“. Das neue Jahrtausend entsann sich jenen Moments, aufgrund dessen „lange Zeit das letzte Kleid nahezu jeder Modenschau die verschleierte Braut [war]"#10. Denn dieses Bild, dieser „Moment negiert die Zeit und Dauer; er löscht die Spuren der Zeit, um sich selbst als absolut, selbstevident und makellos zu setzen, der vollkommene Moment als Vorschein von Ewigkeit“#11.

Mit Robe d’innocence – „Unschuldskleid“ – war die Herbst-Kollektion des belgischen Modedesigners Martin van Deeker überschrieben, die im Pariser Museé de l’Homme 1999 zur Vorstellung kam. Van Deeker hatte sich im Vorfeld der Präsentation ausbedungen, dass im Hauptraum des Museums, der eine der bedeutendsten Sammlungen von Alltagsgegenständen und Stammesutensilien südamerikanischer Ureinwohner beherbergt und den er für seine Kollektion ausgewählt hatte, nichts verändert werden sollte. Der einzige Eingriff in die Ausstellungsarchitektur bestand aus einem grob gezimmerten Podest, das den Raum in seiner Längsachse teilte. Einen Großteil der Zeit seiner fast einstündigen Präsentation verwandte van Deeker auf das Projizieren schwarz-weißer Aufnahmen von brasilianischen Boróro, Caduveco und Tupí-Kawahib, als deren Urheber die Bildunterschriften Claude Lévi-Strauss auswiesen. Es folgten farbige Fotografien mit dem Kürzel „M.v.D.“ – Frauen, Männer und Kinder vom Stamm der Txucarramãe. Bilder Schlafender wurden abgelöst von Bildern, die die Urweinwohner bei der Verrichtung unterschiedlichster Tätigkeiten zeigten. Anfangs statisch, gerieten sie alsbald in Bewegung: Ein Mann mit scharlachrotem Gesicht, eine Frau mit blauschwarzen Linien und Punkten auf der Haut, das Gesicht orange, auch die Unterarme und die Fesseln, und ein junges Mädchen ohne Bemalung kreisten im Raum. Zunehmend schneller. Dann richteten sich die Projektoren auf die Stirnwand des Raumes und die Einzelporträts formten sich zu einem Gruppenbild. Aus der Panorama-Projektion trat ein Körper hervor, bekam Gesicht und Kontur. Lässig durchschritt das Mannequin den Raum, wandte dem Publikum seine Nacktheit zu und legt sich am Ende des Podestes nieder. Es folgte das nächste Model, das diesen Akt an anderer Stelle wiederholte.
Van Deeker präsentierte seine Models, Frauen wie Männer, teilweise nackt, teilweise hatte er ihnen die abgelichtete, bemalte Haut der Txucarramãe übergestreift. Stoff und Farbauftrag waren von so feiner Abstimmung, dass die sie tragenden Körper nicht zur Gänze verhüllt waren. In leichten Verschiebungen doppelten sich Genitalien und Brüste. Mit dem letzten Model, das sich vom projizierten Bild trennte und in die Gruppe der im Vordergrund Postierten trat, löste sich von der Decke des Raumes ein weißes Tuch mit der Aufschrift „Robe d‘innocence“ und senkte sich verhüllend über die Körper.

Der Akt des Verhüllens, dieses letzte Bild, nimmt sich aus wie das letzte eines zu Ende gehenden Jahrtausends, als wäre der Übergang vom einen in das andere Jahrtausend zugleich die Schwelle zum Bildverlust oder: das Unschuldskleid ein Leichentuch? In Sprache gefasst lassen sich die Projektionen und Bilder von „Robe d‘innocence“ – insbesondere das letzte Bild des sich verhüllend auf den Körper senkenden Tuches – als Allegorese der „Mode vor dem Weitermachen“#12 lesen – darin eingewoben eine historische Dimension des Sujets, in die sich die Farbe Weiß und mithin die Attribute Reinheit und Unschuld eingeschrieben haben. „Mode vor dem Weitermachen“, das ist die Mode des europäischen Festlands, mit ihrer ganz eigenen Geschichtlichkeit. Und die ist in Island anders. Entschieden anders. Und ebenso anders ist auf der Insel im Atlantik der Umgang mit Tradition und Geschichte im Jetzt.

Als im 9. Jahrhundert die ersten Siedler die Insel betraten, brauchten keine Ureinwohner vertrieben zu werden. Keinen edlen Wilden, keinen Kindern der Natur galt es, billige Geschenke zu machen. Niemand konnte sich anderen in Kultur, Denken oder Glauben überlegen fühlen. Die historische Entwicklung der Mode, wie beschrieben, färbte nicht ab auf jene, die in mühsamer Arbeit und unter Einsatz ihres Lebens dem Land und der See bis ins 20. Jahrhundert ihr Überleben abtrotzten.

Die seit den 1990er Jahren auf Island entstehende Mode ist ein „Weitermachen nach der Mode“. Die Kreationen eines Guðmundur Hallgrímsson (Mundi) folgen keinem mit der Farbe Weiß verordneten Reinheitsgebot. Im Gegenteil! Vom weißen Kleid der Unschuld und Jungfräulichkeit ist nicht mehr viel geblieben. Es avanciert zum Malgrund, übersäht mit Flecken aus Blut und Sperma, mit Krakelagen, Zeichnungen und Farbe. Es wird zur Projektsfläche von mythischen Figuren, erhabenen Landschaften oder Schaufensterpuppen penetrierenden Weihnachtsmännern. Es wird in Streifen geschnitten und eingefärbt für frech-frivole Outfits.

Die Designerinnen und Designer, die in diesem Buch vorgestellt werden, lassen sich nicht in das Schema einer historischen Entwicklung einpassen. Weder lässt sich hier von einer „Mode nach der Mode“#13 sprechen, als deren Merkmale Zeitlichkeit im Gegensatz zu Ewigkeit, Unvollkommenheit an Stelle von Makellosigkeit auszumachen sind, noch treffen die entgegengesetzten Merkmale einer „Mode davor“ auf das isländische Modeschaffen zu. Die in Island entstehende Mode ist auch nicht Ausdruck eines Aufstandes gegen die sekundäre Welt#14, denn der „Wirklichkeit“ sind die Ursprünge niemals verlustig gegangen, weil im zwar spät einsetzenden, dann jedoch nicht weniger rasanten Fortschritt das Geheimnis, der Zauber und die Aura nicht auf der Strecke geblieben sind.

Als Beweis dafür bedarf es lediglich einer Fahrt vom Flughafen Keflavík in die 45 Kilometer entfernte Hauptstadt Reykjavík, um mit Landschaften konfrontiert zu werden, auf die schon die ersten Siedler blickten; auf dieselbe erkaltete Lavaformation, dasselbe Moos, das mehr als tausend Jahre überdauert hat. Kein Baum verstellt hier den Blick, noch bedeckt dessen Laub in jährlicher Schichtung den schrundigen Untergrund. Rund 20 Prozent des Landes sind als bewirtschaftbare Fläche ausgewiesen, nur rund 12 Prozent davon sind kultiviert. Allerorten also der Blick in die Geschichte, auf eine andere Zeit. Und allerorten Geschichten. Die isländische Literatur und Sprache sind die Bindeglieder der Inselnation. Seit dem Mittelalter hat sich die Sprache kaum verändert, daher hat jede Isländerin und jeder Isländer einen direkten Zugang zur Mittelalterliteratur – darunter die Isländersagas, die Einblicke in die Zeit der Landnahme geben und die jeder im Original noch heute lesen kann. Das ist in Europa einzigartig. Die „Isländersagas“ erzählen die Geschichten, die sich in den Anfängen einer sich bildenden Gesellschaft zugetragen haben. Sie summieren sich zu einer großen Sammlung von Beispielen und Modellen für die Entstehung grundlegender sozialer und menschlicher Probleme, die daraus resultierenden Konflikte, für Lösungsmodelle und vor allem für die aus all dem resultierenden mentalen Folgen für den Einzelnen. Sie sind bis heute immer wieder Thema, wenn es um die Einschätzung von Verhaltensmustern geht, und es wird immer wieder neu um Auslegung und Deutung verschiedenster Sagas gerungen.

So, wie diese Insel erst spät bevölkert wurde, streckte sich auch der Arm der Industrialisierung erst spät nach dieser Gesellschaft aus, was einerseits der geografischen Abgelegenheit Islands und andererseits der über Jahrhunderte andauernden Fremdherrschaft geschuldet ist. Von 1262 bis 1380 gehörte der Inselstaat zu Norwegen und von 1380 bis 1944 zu Dänemark. Es war vor allem die dänische Herrschaft, die die Entwicklung einer Exportwirtschaft behinderte, da aufgrund von Handelsmonopolen nur an Dänemark verkauft werden durfte. Ein weiterer hemmender Faktor waren zahlreiche Naturkatastrophen, wie Vulkanausbrüche, in deren Folge es zu Hungersnöten kam und die Bevölkerung immer wieder dramatisch dezimiert wurde. Eine wirkliche Wirtschaft entstand in Island erst mit der Indienstnahme von Fischtrawlern, mit deren Hilfe mehr Fisch angelandet werden konnte, als die eigene Bevölkerung benötigte. Der am 6. März 1905 in Dienst genommene Trawler „Coot“, was auf Deutsch „Blesshuhn“ bedeutet, und ein 1907 von fünf isländischen Kapitänen und einem Kaufmann in Reykjavík auf den Namen „Jón forseti“ getaufter Trawler markieren den Beginn der kommerziellen Fischerei in Island, die zu den sogenannten Heringswundern im Westen und Norden des Landes führte. Der Hering wurde zum Synonym für Reichtum (der sich freilich im Vergleich zu dem Reichtum, den man auf dem europäischen Festland anhäufen konnte, außerordentlich bescheiden ausnahm) und legte den Grundstein für die rasante Entwicklung, die von da an alle Bereiche des Lebens betraf. Was sich in anderen Ländern in Europa über einen Zeitraum von 300 Jahren vollzog, geschah hier in 100 Jahren.

Als in Island aus Bekleidung Mode wird, zerstört diese Mode nicht die Idee von Mode als aristokratisch, elegant, luxuriös und schön, weil es diese Idee nie gab. Die kreativen Impulse kommen weder aus der Haute Couture noch aus dem Prêt-à-porter. Kein verdrängtes Anderes muss sich durch ein Zurückdrängen neuerlich Ausdruck verschaffen, denn es war immer da. Die Spuren der Vergänglichkeit sind ebenso der Stoff, aus dem die Mode gemacht ist, wie der Stoff, der aus den Träumen und Geschichten gewoben ist#15, wie bei Steinunn Sigurðardóttir: „Ich wuchs in einem nordischen Land auf, fern vom Modegeschäft. In einem Land, wo die Mitternachtssonne, die unendliche Dämmerung, Sterne, Nordlichter und das Mondlicht Teil des Heranwachsens sind. Wenn ich an den dunklen Wintertagen draußen spielte, schienen die Sterne und das Universum nie besonders weit entfernt zu sein, und während des Sommers waren die Tage durch die Mitternachtssonne endlos. Die Oberflächenstrukturen der nordischen Landschaft, das magische Gefühl des kristallisierten Schnees und der Mythos des Nebels können in einem kindlichen Gemüt wunderbare Geschichten erschaffen. Als ich jung war, träumte ich davon, Island zu verlassen und in einem anderen Land zu studieren. Das Schicksal führte mich nach New York, an die Parsons School of Design. Ich verliebte mich in die Stadt New York und blieb dreizehn Jahre lang dort. Nachdem ich meine Ausbildung beendet hatte, war ich in der Modeindustrie tätig und arbeitete viele Jahre lang mit drei der einflussreichsten Modedesigner: Ralph Lauren, Calvin Klein und Tom Ford (dann mit Gucci). Ich glaube, dass die Ästhetik jedes Individuums durch seine Umgebung geprägt wird, und Island war für mich die Quelle vielfältiger Inspirationen, sowohl durch seine Natur als auch durch seine Nationaltracht.“#16

Während in den Kreationen Steinunn Sigurðardóttirs das Isländische – etwa Bordüren sowie extravagante Kragen aus Tüll, die an kristallinen Schnee und Gletscherspalten oder die Strukturen von porösem Lavagestein erinnern – von den Einflüssen von Außen und einer Vorliebe für das Art Déco eher an den Rand gedrängt zu sein scheint, zeigt sich im überaus kreativen Schaffen des Wahl-Isländers Sruli Recht genau der umgekehrte Weg. Recht, der in Jerusalem geboren wurde, in Südafrika lebte und über Australien nach Island migrierte, brachte bereits (s)ein Designschaffen mit. Und genau dieses verändert sich nun: „Ich lebe jetzt seit viereinhalb Jahren hier und bin hier mehr zuhause als irgendwo sonst. Ich bin kein Isländer, aber dennoch ist diese Peripherie, diese abstrakt-ländliche High-Tech-Stadt irgendwie mein Zuhause. Hier zu sein, hatte einen enormen Einfluss auf mich und auf das, was ich gemacht habe, aber, was noch wichtiger ist, auch auf das, was ich mache und vorhabe zu tun. Das, was mich wirklich dazu gebracht hat hierzubleiben, war die Herausforderung an das Design – es gibt sehr wenige natürliche Ressourcen abgesehen von Leder und grober Wolle. Island stellt eine ziemliche Einschränkung für das Design dar, aber dadurch bin ich auf Ideen gekommen, die mir niemals eingefallen wären, wenn ich in New York City leben würde und 24 Stunden am Tag zu allem Zugang hätte. Es bedingt sowohl die Produktion, die so lokal wie möglich ist oder sogar im eigenen Haus stattfindet, als auch den Fokus auf einheimisches Rohmaterial. Ich arbeite nicht nur mit isländischer Wolle und Pferdeleder, weil ich es so mag. Es ist hier einfach so, dass wenn du mit etwas anderem arbeiten willst, du es importieren musst. Und das ist fast unmöglich wegen der Importzölle. Aber irgendwie ist das auch ein heimlicher Segen.“#17

Beide Designpositionen markieren jene Einflüsse und Inspirationsquellen, die für nahezu alle isländischen Modedesignerinnen und -designer gelten: die Farben, die Schattierungen von Weiß, Violett, Grün und Schwarz der im Wechsel des Lichts sich zeigenden isländischen Landschaft, die variantenreiche Oberflächentektonik, die Materialien, welche Fischfang, Schaf- und Pferdezucht auf der Insel hergeben, die literarische Tradition und das damit eng verknüpfte kulturelle Erbe Islands.

So ist auch das Modeschaffen von Björg Ingadóttir und Vala Torfadóttir, die seit 1993 unter dem Label „Spaksmannsspjarir“ („Die Kleider des weißen Mannes“) formieren, in nicht geringem Maße der isländischen Geografie geschuldet. Die diversen Kollektionen des Labels zeichnen sich durch ihren Reichtum an Farben und Formen aus. Maskuline Elemente werden mit femininen Schnitten kombiniert, nostalgische Silhouetten entstehen aus hochmodernen Materialien, scheinbar unvereinbare Gegensätze verschmelzen. Das Label steht vor allem für Kontinuität und gegen die globale Vereinheitlichung einer von Jeans und Sneakers dominierten Fashionindustrie. Das Gesamtkonzept von Spaksmannsspjarir zielt auf eine anpassungsfähige und zeitlose Mode, die mehrere Jahre lang tragbar ist. „Wir entwerfen unsere Kollektionen für die intelligente, unabhängige und praktisch veranlagte Frau über zwanzig, die es bevorzugt, sich individuell statt von der Stange zu kleiden. Jedes Stück von Spaksmannsspjarir entsteht mit dem Gedanken, vielfach nutzbar zu sein, um so letztlich auch die Individualität der jeweiligen Trägerin zu betonen. Alle Entwürfe einer Kollektion und einer Saison lassen sich frei kombinieren; die Garderoben für den Tag und für den Abend sind austauschbar, auch die unterschiedlichen Kollektionen aus diversen Jahreszeiten und Jahren können gemixt werden. Individuelle Einzelstücke lassen sich wie die Teile eines Puzzles zusammensetzen. Jedes Gewand besitzt somit mehrere Leben.“#18 Indem Björg Ingadóttir und Vala Tofradóttir ganz bewusst auf eine kleine inländische Produktionslinie bauen, qualitativ hochwertigste Materialen verwenden und jede Expansion mit eigenen Stores außerhalb Islands vermeiden, beweisen sie, dass sich sehr wohl mit den Widersprüchen kapitalistischer Kultur leben und arbeiten lässt. Ihre Arbeitsweise weist dabei Praktiken auf, die sich ganz entschieden dem Diktat der Flüchtigkeit und dem Hunger der Fashionindustrie nach dem Allerneusten widersetzen.

Ebenso eng mit der Insel im Atlantik ist das Modeschaffen von Ásta Guðmundsdóttir (ásta créative clothes) verknüpft: „Meine Entwürfe sind so rau und so kontrastreich wie der Wind und der Sturm in meinem Heimatland. Die Gewebe, mit denen ich arbeite, würden auch zu imaginären Kreaturen passen, die in Höhlen oder im Gebirge leben. Stoffe, die scheinbar im Meer gewaschen wurden, an der Küste wieder trockneten, die gedehnt und verzwirnt wurden. Meine Mode ist brutal feminin; für eine starke Frau, die barfuß durch den Schnee schreitet, Energie und Lebenslust ausstrahlt und in völliger Gemeinschaft mit der Natur lebt.“#19
Während in Mitteleuropa noch immer die Angst umgeht, die Perforierung tradierter Grenzen, wie etwa zwischen Kunst und Design, könne die Kunst endgültig in die Fänge der Ökonomie treiben oder das Design würde gar der Kunst die Show stehlen, scheinen gerade die nordischen Inselbewohnerinnen und -bewohner Strategien entwickelt zu haben, die es ihnen erlauben, in unterschiedlichen Praxisfeldern und Zusammenhängen gleichermaßen zu agieren. Dabei bestimmt nicht Koketterie diesen Wechsel zwischen den Bereichen, sondern das Ausfacettieren gestalterischer wie künstlerischer Praktiken. Ein Paradebeispiel hierfür ist der bereits angesprochene Mundi, aber auch Hrafnhildur Árnadóttir und die von den Färöer Inseln stammende Barbara í Gongini stehen für diese Art gestalterischer Praxis.
Der 1987 geborene Mundi begnügt sich nicht damit, als Enfant terrible der isländischen Mode- und Kunstszene zu gelten. Bei einem erst kürzlich vorgenommenen Relaunch seiner Website fügte er seinem Künstlernamen Mundi noch das isländische Wort „Vondi“ hinzu, das übersetzt soviel wie „böse“ bedeutet. Der böse Mundi stellt aus, kuratiert, ist Filmemacher, Modedesigner und in jeder Hinsicht ein kluger Stratege, der der Kritik immer einen Schritt voraus ist. Er scheint fortzusetzen, was ihn schon in noch jüngeren Jahren ausmachte: sich auf einer äußerst kreativen Überholspur zu befinden. Denn bereits im Alter von 18 Jahren bewarb er sich an der Iceland Academy of the Arts und wurde dort angenommen, obwohl er weder über das nötige Alter noch die schulische Vorbildung verfügte, die eigentlich Voraussetzungen für eine Aufnahme an der Akademie sind.
Hrafnhildur Arnardóttir, auch bekannt als Shoplifter, ist mit ihren Werken fester Bestandteil der internationalen Kunstszene. Sie ist Performerin, Designerin und Ausstellungskuratorin, etwa der zweiten Nordic Fashion Biennale 2011 in Seattle. Eines der wichtigsten und augenfälligsten Materialien für ihre Arbeiten im sowohl Kunst- wie auch im Designbereich ist Haar, das sie für Kleidung, Wandbilder, Skulpturen und Installationen verwendet. Für Björk, mit der sie als Stylistin und Designerin zusammenarbeitet, entwarf sie eine tragbare Haarskulptur – zu sehen auf dem Cover des Albums Medúlla – sowie Bühnenkostüme für diverse Tourneen. Eine enge Kooperation verbindet Hrafnhildur Arnardóttir aka Shoplifter mit der in New York lebenden und arbeitenden Stylistin und Designerin Edda Guðmundsdóttir. Gemeinsam entwerfen sie Kleidung aus Haar sowie Accessoires für Victoria Bartlett und deren Label VPL – Mode, die von Prominenten wie Lady Gaga, Eve und Drew Barrymore getragen wird. Guðmundsdóttir, zu deren Kunden Oil of Olaz, Puma, Diane von Fürstenberg, Boss und L’Oreal gehören, war zudem künstlerische Leiterin einer Tanzperformance für das Cedar Lake Contemporary Dance Theater.
Wie alle anderen hier vorgestellten Designerinnen und Designer, mit Ausnahme von Sruli Recht, hat auch Barbara í Gongini ihre Wurzeln auf einer Insel, genauer gesagt auf einer Inselgruppe zwischen Island und dem europäischen Festland, den Färöer Inseln. Seit ihrer Graduierung am Dänischen Institute of Unica Design gehört die in Kopenhagen lebende Modemacherin zu den avantgardistischsten Gestalterinnen und Gestaltern der Nordischen Modeszene. Und auch sie betont in ihren Statements ihre Verbindung zu den Traditionen und dem Leben der Inselbewohnerinnen und -bewohner. Das Agieren zwischen Kunst und Design, zwischen industrieller Produktion und Einzelwerk gelingt ihr, indem sie bereits während des Entwurfsprozesses zweigleisig fährt. So entwickelt sie in die eine Richtung teilweise skurrile, bizarre und leicht abwegige Kreationen aus Gummi, Plastik, Kabeln, Tüll, Leder und Fell, die sie einbindet in Performances, Fotografie sowie Film und mit denen sie eine spektakuläre künstlerische Präsenz erreicht. In die andere Richtung entwirft sie ganz bewusst einfach gehaltene, tragbare Outfits, die sie in ihren weltweit verteilten Konzept-Stores verkauft. Wenn sich Kunst durch ein kritisch-reflexives Verhältnis zu der uns umgebenden Umwelt definiert, dann muss sich das Arbeiten im Bereich der Modeindustrie deswegen nicht durch ein unkritisches Verhältnis zu eben dieser auszeichnen. So verfolgt Barbara í Gongini alternative Strategien im Sinne von Nachhaltigkeit (wobei mir die Übersetzung des Begriffes „sustainability“ als „Zukunftsfähigkeit“ deutlich besser gefällt), als da wären: Recycling, Multifunktionalität von Bekleidung, die Verwendung von biologisch angebauter Baumwolle und von Pelz- und Fellnebenprodukten, Inhouse- und Fairtrade-Produktion.
An den hier vorgestellten Positionen zeigt sich, dass auch vor dem Hintergrund der Globalisierung sozialer, politischer, ökologischer und ökonomischer Fragen sowie intensiver Austauschbeziehungen über nationale Grenzen hinweg die Imaginationen und Identitätskonzepte durchaus variieren können, und dass das Besondere, Widerständige und Fantastische trotz der weltweiten Verfügbarkeit von Massenmedien und der Zirkulation von Waren und Kapital einen festen Platz in der Gesellschaft einnehmen kann.

In seinem 1948 erschienenen Buch Der Verlust der Mitte, einer Art Zustands- und Befindlichkeitsbericht einer Gesellschaft im Umbruch, warnte Hans Sedlmayr vor einer „gefährliche[n] Auflösung von Traditionen und eine[r] zunehmende[n] Autonomisierung und Separierung einzelner Lebensbereiche“#20. Isländisches Modedesign beweist mehr als 60 Jahre später, dass sich Traditionen in einer modernen Gesellschaft nicht zwangsläufig auflösen müssen, sondern fester Bestandteil im Lebens- und Schaffensprozess sein können. Das hier vorgestellte Modedesign, das sich vielfach als Prozess- oder Performingdesign zu verstehen gibt, erinnert an Altes, feiert das Heute und verzichtet ganz bewusst auf modeimmanente Selbstreflexion. Es ist ein Design, das sich auf eine Tendenz zur Differenzierung und Abwechslung, auf ein Sichabheben gründet – aus einer Haltung heraus, die Design nicht als etwas Definiertes begreift, sondern als „ein offenes Feld mit unbegrenzten Möglichkeiten“#21.


1 Das Zitat stammt aus einer E-Mail Guðmundur Hallgrímssons an den Autor vom 7. Juni 2011.
2 Georg Simmel, „Zur Psychologie der Mode. Soziologische Studie“, in: Die Zeit – Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst, Band 5, Nr. 54, vom 12.10.1895, Seite 23.
3 Georg Simmel, Philosophische Kultur. Die Mode – Teil 2, Leipzig 1919, Seite 35.
4 ebd.
5 Vergleiche auch: Werner Gephart, Mode, Medien und Moderne, Vortrag auf dem dies academicus, Bonn, am 7. Juni 2000.
6 Georg Simmel 1895, a.a.O., S. 24.
7 Elle, Mai 2000, S. 166.
8 Vogue, Mai 2000 S. 135.
9 Vgl. Medien, Mode und Moderne, Ringvorlesung Medienwissenschaften (Medienwissenschaftlicher Studiengang), Universität Bonn 2000.
10 Barbara Vinken, Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, 1993, Seite 36.
11 ebd.
12 Vgl. das Eingangszitat von Guðmundur Hallgrímsson.
13 Ewigkeit, im Gegensatz zu Zeitlichkeit, Makellosigkeit, an Stelle von Unvollkommenheit, sind für Barbara Vinken jene Attribute, die sie einer „Mode vor der Mode“ zuscheibt. „Anders die Mode nach der Mode: Sie sucht Zeit – und das heißt Vergänglichkeit – zu zeichnen.“ (Barbara Vinken, a.a.O., S. 65). Comme des Garçons, Karl Lagerfeld, Jean Paul Gaultier, Ann Demeulemeester, Yohji Yamamoto und Martin Margiela sind nur einige jener Modedesignerinnen und -designer, deren Schaffen sie dazu zählt.
14 Ich beziehe mich hier auf Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München/Wien 1999.
15 In diesem Absatz beziehe ich mich auf verschiedene Passagen aus Barbara Vinkens Buch Mode nach der Mode (a.a.O.). So heißt es bei ihr: „Die kreativen Impulse kommen nicht mehr aus der haute couture, sondern vom prêt-à-porter“ (S. 33) oder: „Die Spuren der Vergänglichkeit sind der Stoff, aus dem die Mode nach der Mode – an Stelle des Stoffs, aus dem die Träume sind – gemacht ist.“ (S. 65) und weiter: „Die Mode nach der Mode ist der Ort geworden, an dem das verdrängte Andere im Zurückdrängen zum Ausdruck kommt und im Ausdruck gerettet erscheint für den Moment unendlich vielfältiger Augenblicke.“ (S. 67)
16 Steinunn Sigurdadóttir in einem Schreiben an den Autor im Juni 2006.
17 Barbara Russ, Island Special Teil 5 – Islands außergewöhnlichstes Talent: Sruli Recht im Interview, http://www.modabot.de/island-special-5-islands-aussergewoehnlichstes-talent-sruli-recht-im-interview, 06.06.2011.
18 Vala Torfadóttir in einer E-Mail an den Autor vom 27. September 2005.
19 Ásta Vilhelmína Guðmundsdóttir in einer E-Mail an den Autor.
20 Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20.Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Frankfurt am Main 1955.
21 Guðmundur Hallgrímsson in einer E-Mail an den Autor am 7. Juni 2011


Laudatio für Christodoulos Panayiotou anlässlich der Verleihung des Kunstpreises "Europas Zukunft"in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, April 2011

Dear Christodoulos Panayiotou,
liebe Barbara Steiner,
liebe Ilina Kovalova,
lieber Matthias Brühl und Dietmar Schulz,
liebe Freundinnen und Freunde der Kunst,
richtete sich dieser Kunstpreis, den es heute zu verleihen gilt, von 2003 bis 2008 zunächst an jüngere KünstlerInnen aus postkommunistischen Ländern, so überschreitet die Auslobung des Preises seit 2010 die Grenzen der Euro-päischen Union und bezieht sich auf ein Europa, das einen gemeinsamen kulturellen und geistigen Raum beschreibt und dessen Grenzen nicht scharf zu ziehen sind, heißt es in einer von der Galerie für Zeitgenössische Kunst und alpha 2000 formulierten Zielsetzung.
Dass der diesjährige Preisträger aus Zypern kommt, kam von ungefähr, will heißen: es war nicht geplant! Aber wo, wenn nicht in Zypern lassen sich all jene Konflikte finden, die Europa eben nicht zu einem statischen Gebilde machen, sondern zu einem Projekt, welches immer wieder neu ausgehandelt werden will, gerade weil Grenzen nicht scharf zu ziehen sind, wie es in der erwähnten Zielsetzung heißt.
Aus Zypern, kommt der Künstler Christodoulos Panayiotou, dem diese Laudatio gilt. Zypern, das erst seit dem 1. Mai 2004 Mitgliedsstaat der europäischen Union ist, dessen geografisches Territorium zu Asien zählt, zwei unterschiedliche Volksgruppen beheimatet und heute geteilt ist in eine Türkische Republik Nordzypern, allein anerkannt von der Türkei selbst, und dem griechischsprachigen Südteil Zyperns – dieses Zypern bildet den Hintergrund, die Folie vor der sich die Werke Christodoulos Panayiotous erschließen. Progrome und ethnische Säuberungen bestimmen ebenso die Geschichte des Inselstaates, wie ein bis heute gültiges Waffenstillstands-abkommen und eine so genannte Green Line als Waffenstillstandslinie, die inzwischen an Durchlässigkeit wieder gewonnen hat. Auf einer Seite, in der im Süden gelegenen Hafenstadt Limasso wurde 1978 Christodoulos Panayiotou geboren. Und nicht von ungefähr, bildet nationale Identität oder besser Identitätssuche, ein immer wiederkehrendes Thema in den Werken des Künstlers. Er sind die Bilder, die in diesem Prozess nationaler Konstitution Eingang in die Archive gefunden haben, etwa in dem der Zeitung „Phileleftheros“, und das Interesse von Panayiotou berühren. Aus diesen nationalen Foto- und Pressearchiven speist er seine Projektoren, einzeln im abgedunkelten Raum positioniert, oder als Mehrfachprojektion: drei zeitgleich nebeneinander auf der Wand erscheinende Fotografien von Detonationen, bei denen sich die Frage stellt: zeigt dies ein Fischen mit Dynamit in Strandnähe oder die Vernichtung von Munition? Oder sind es Bilder eines Angriffs eines nicht sichtbaren Aggressors? Gefolgt vom Einzelbild eines steinernen Löwens, dem eines Santa Claus beim Verteilen von Geschenken, einer mediterranen Villa im gleisenden Sonnenlicht, dem Bild einer Frau beim Putzen einer Treppe, einer Gay-Parade, eines Jesusbildes, einer Party, Miss Zypern, die Fotografie einer hellenistischen Skulptur, ... .
Die Art und Weise des Aufbaus der Werke, das Rattern der Projektoren, ihr zeitweiser Gleich- und dann wieder Gegenlauf, bilden nicht nur den akustischen Kontrast zu gerahmten Fotografien oder Relikten von Performances, die gegenüber den Projektionen umso eingefrorener wirken. Dabei hinterfragt Panayiotou mit der von ihm getroffenen Auswahl von Motiven nicht nur die Rolle der Medien während der kulturpolitischen Prozesse um Identitätsstiftung und -findung Zyperns, sondern zugleich die Rolle der Fotografie. Denn augenscheinlich, und dies ist dem äußerst subtilen Blick und Gespür des Künstlers bei der Auswahl der Bildmotive zu verdanken, fächert sich hier nicht eine allein zypriotische Ikonographie auf, sondern Bildkosmen, die eher als paradigmatische Versuchsanordnungen zu lesen sind. Paradigmatisch deswegen, weil der Künstler bei der Anordnung seiner Fotoserien oder den Tableaus ehemaliger Performances ganz grundsätzlich eine Abfolge bedeutungstragender Elemente, respektive Motive vermeidet. So entstehen scheinbar Zwischenräume, Lücken oder poetischer: Momente der Abwesenheit. Diese Momente lassen sich als signifikante Leerstellen im Werk Panayiotous ausmachen, die den Betrachter zu imaginativen, intellektuellen Eigenleistungen auffordern. Mit dem Begriff der Abwesenheit ist zugleich dessen Gegenteil, die Anwesenheit, Präsenz, aufgerufen, die sich an dieser Stelle durch eine Co-Präsenz des Betrachters erfüllt und mit dem Künstler eine Komplizenschaft erlaubt. Es ist eben nicht allein die materielle und sichtbare Präsenz, die hier die Bedeutung des Kunstwerkes erzeugt, sondern das Abwesende und Unsichtbare.
Hier tritt also ein junger Künstler mit seinem Werk in Erscheinung, das mit Blick auf Europa an Aktualität nur schwerlich zu übertreffen ist. Dafür gilt es Christodoulos Panayiotou zu danken. Es ist ihm zu danken für seine kluge Reflektion der uns umgebenden sozialen und politischen Geschichts-konstruktionen, ausgehend von seinem ganz persönlichen Hintergrund. Es ist ihm zu danken, weil seine Werke uns, die Juroren, intellektuell und zugleich in ihrer Sinnlichkeit ansprachen.

Matthias Wagner K